Aus dem 19. Jahrhundert?

Keine Veröffentlichung Herman Wirths erntete so viel Protest wie seine Teilübersetzung und Kommentierung dieser Entdeckung aus dem 19. Jahrhundert, die schon damals sehr bald als Fälschung bezeichnet worden war. Herman Wirth schrieb: „Diese Chronik hatten wir Utrechter Studenten von unserem Professor J.W.Muller in einem Kolleg 1904 als eine amüsante Fälschung kurz erwähnen hören und autoritäts-pflichtmäßig mit belächelt. Die Runenschrift sollte aus einem Rad entstanden und mit der Sonne herumgeschrieben worden sein. Und dieses Rad wäre das älteste Sinnbild eines monotheistischen Gottesbegriffes gewesen usw. Nun hatte ich 1923/24 schon auf Grund früh- und vorgeschichtlicher Denkmäler, die in diesem Zusammenhang nicht erkannt bzw. unbeachtet geblieben waren, die Überzeugung gewonnen, daß die germanische Runenschrift ursprünglich eine kalendarische Kultsymbolik gewesen sein müßte, eine Jahressymbolreihe eines achtfach geteilten Kalender-Rades, einer Kalenderscheibe. So horchte ich hell auf, als mir auch damit Mullers Kolleggeschichte wieder in Erinnerung zurückgerufen wurde. Denn die Chronik erzählte mir da, was ich mein ureigenstes Arbeitsergebnis wähnte.“ (23 )

Auf dem Einbandumschlag der von Herman Wirth 1933 herausgegebenen Übersetzung einer Auswahl des Textes mit einer ausführlichen Kommentierung steht: „Die Ura-Linda-Chronik, das älteste Zeugnis germanischer Geschichte, wurde vor 60 Jahren (Anm: 1872, d.Verf.) in Holland aufgefunden. Die zunächst bezweifelte Echtheit wird nun von Herman Wirth überzeugend nachgewiesen. Das Werk berichtet von Kriegszügen und Entdeckungsfahrten, von Not- und Glückszeiten unserer Vorfahren zurück bis 2193 v.Chr., von heiligen Gesetzen unserer Ahnen, staatlichen Einrichtungen, Sitten und Gebräuchen. Die Ura-Linda-Chronik vermittelt damit ein eindrucksvolles Bild stolzer Kulturhöhe unserer Vorfahren …“

Tatsächlich sprechen viele Indizien gegen die Echtheit dieser Chronik. So muß sie zumindest abgeschrieben oder aus einzelnen älteren Überlieferungen zusammengeschrieben worden sein. Auch der Inhalt muß dabei verschiedenen Wandlungen bzw. Anpassungen unterworfen worden sein. Aber aufgrund seiner schon vorher veröffentlichten Forschungsergebnisse schrieb HW. jetzt in der Einführung den Satz: „Hiermit trete ich für die Quellenechtheit einer sogenannten Fälschung ein und beantrage vor der gegenwärtigen Öffentlichkeit die Erneuerung des Verfahrens in Sachen der Ura-Linda-Handschrift.“ (24)

Quellenechtheit

Bezug nehmend auf die jeweiligen Textstellen erläutert er seine vielen Beweise anhand der bis dahin unbeachteten und in ihrer Bedeutung von ihm jetzt erforschten Symbole und davon abgeleiteten Mythen: „Das Buch der Adele-Folger bringt als Eingang drei 6-speichige Räder mit der Umschrift: Wralda ‚t-Anfang (der Anfang), t-bijin (der Beginn) … mit der Erläuterung, daß sie‚ die Zeichen des Juls seien, (Wirth verweist an anderer Stelle auf die Bedeutung von Jul = Rad, altnordisch hjól, englisch wheel, d.Verf.)‚ das ist das älteste Sinnbild Wraldas, auch von dem Anfang oder dem Beginn, woraus die Zeit kam: dieser ist der Kroder, der ewig mit dem Jul muß umlaufen“ (25)

„Von größter Wichtigkeit ist der überlieferte Name Gottes, Wralda, dessen ältestes Sinnbild das  Jul wäre. Die hier ungekürzte Form, welche sonst altfriesisch wrald und warld … althochdeutsch weralt … lautet, neuniederländisch wereld … hat in diesen germanischen Sprachen die Bedeutung von Zeitalter (lat. saeculum), Welt, Schöpfung, Erde (als Wohnsitz der Menschen) …“ (26)

„Und allein (schon) diese Tatsache, daß die Ura-Linda-Handschrift den Namen Wralda uns als den Gottesnamen überliefert und als sein ältestes Sinnbild das  6-speichige Rad, das Welten- und Jahresbild, aus dem die Schrift mit der Sonne herum entstanden ist, diese Tatsache allein genügt, um die Quellenechtheit der Ura-Linda-Handschrift zu beweisen.“ (27)

Gerade die Kombination mit vielen weiteren Symbolen und daraus gebildeten Mythen sind für Wirth eindeutige Beweise für einen echten Kern dieser überlieferten Handschrift. Darüber hinaus ist bekannt, daß es in vielen Bauernhöfen – auch z.B. Flanderns – solche alten Handschriften der jeweiligen frühesten Geschichte des Hofes gab. Sie wurden z.T. nach dem ersten Weltkrieg als sogenannte Teufelsbücher von den Kirchen eingezogen.

Geschichtlicher Hintergrund

Schließlich verweist Wirth noch auf die Unmöglichkeit eines Vorgriffs der Handschrift auf erst später entdeckte Spuren nordischer Seefahrer und Siedler in Indien. Dazu gehört der Silberkessel von Gundestrup, Jütland: „(Dieser)…stellt also ebenfalls die Verbindung mit dem fernen Südosten, mit Hellas und Indien, dar. Und in diesem Zusammenhang gewinnen die Sagen von der Rückkehr Frisos (aus Indien, d. Verf.), welche außer in der Ura-Linda-Chronik auch in jener Chronik von Worp van Tabor wie Occo Scarlensis u.a. erscheinen, doch einen anderen geschichtlichen Hintergrund. Diese indischen und ionischen Nachfahren einstiger nordischer Volkspflanzungen haben diese Motive mitgebracht, wie noch bis heute in der indischen Kultsymbolik das Motiv des Schwanengeleitbootes mit dem Jul Wraldas, dem und  (cakra) volkläufig geblieben ist. Und nur so erklärt es sich, daß der Gundestrup-Kessel in dieser Gestalt im Nordseegebiet entstehen konnte. Für das Problem der überseeischen Volkspflanzungen nordischer Seefahrer in Vorderindien hat die Ausgrabung von Mohenjo-Daro, am Unterlauf des Indus, im Sindh, nunmehr wichtigste Anhaltspunkte gegeben.“ (28)

(Anm.: diese Ausgrabungen waren 1872 noch nicht begonnen, geschweige denn bekannt! d.Verf.)

Wirth weiter: (die Symbolik) „ … führt über das friesische Landrecht vom Anfange des 13.Jahrhunderts und die Annales Brunswilarenses mit der nicht exixtierenden odil-Rune (Ende 10.Jahrhundert) zurück in die Zeit der Odil-Mütter am Niederrhein (1.Jahrhundert), von denen uns die Ura-Linda-Chronik die frühgeschichtliche Kunde übermittelt, die auch im Volksmunde noch in Verbindung mit den Frauenbergen usw. bis zum 19.Jahrhundert bewahrt blieb. Von alledem weiß weder die Volkskunde, noch die Germanistik, noch die Vorgeschichtswissenschaft irgend etwas.“ (29)

Wenn HW schon in der Ura-Linda-Chronik entdeckt hatte, daß hier Wralda mit het god (das Gott) – also weder männlich noch weiblich – bezeichnet wurde, so schrieb er später mit Vorliebe von der (kultischen) Mutter – Allmutter – als Schöpferin des Lichts, des neuen Jahres usw. und fand in der großen Höhle der Externsteine auch das Ur-Sinnbild in dem Herzhaupt mit dem Mutterzeichen.

Frauenberge

Die Lichttürme in der Chronik waren Frauentürme; entsprechend verwies er auf die späteren Frauenberge, die auch einst mit Lichttürmen bebaut waren. (30)  Zu allen Bemühungen der Wissenschaftler damaliger Zeit, sich zu rechtfertigen und die Handschrift weiter als Fälschung zu beweisen, veröffentlichte A. Hübner als politische Aktion gegen Wirth eine Broschüre (Berlin 1934), in der es schließlich heißt : „Die Ura Linda- Chronik ist nicht nur demokratisch, führerfeindlich, pazifistisch in ihrer Grundeinstellung, sie ist im ganzen ein Machwerk ohne Saft und Kraft …“ Hübner wirft Wirth vor, er habe Mangel an Verantwortungsgefühl und an weltanschaulichem Instinkt. (31) Wirth verlor daraufhin die venia legendi „ …wegen liberalistisch-individualistischer Wissenschaftsauffassung, die zu überwinden Aufgabe der jungen nationalsozialistischen Wissenschaft ist.“

Wirth politisch „nicht korrekt“

Zu manchen Irrtümern, die HW. in seiner Pionierarbeit unterlaufen mußten, wie er später auch zugab, kam hinzu, daß er politisch nicht korrekt war. Er schrieb dazu bereits im März 1937: „Das Dritte Reich ist nicht‚ der Gang zu den Müttern. Darum wird es nicht von Dauer sein.

Marburg / Lahn, März 1937, als wir Berlin verließen und nach unserer ‚Eresburg‘ zurückkehrten (sein Wohnhaus,d.Verf.), um wieder Gottes Freie zu werden.“ (32)

Quellen:
23) HW. „Um den Ursinn des Menschseins“,(Ursinn) Volkstum-Verlag Wien (1980) S. 19 / 20
24) HW. „Die Ura-Linda-Chronik“, Koehler & Amelang, Leipzig (1933) S. 131
25) Wie vor S. 143
26) Wie vor S. 145
27) Wie vor S. 147
28) Wie vor S. 279
29) HW. in „Ursinn“ S. 47
30) HW. „Die Frage der Frauenberge“ (1972) und „Allmutter“, (1974) , beide Eccestan-Verlag, Marburg
31) HW. in „Ursinn“ S. 48
32) HW. handschr. in holländ. Sprache, von Tochter Ilge dem Verf. in Kopie übergeben. Übersetzung d.Verf.